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r rJean-Pierre Pellet   artist contest winner first best schrift künstler foto malerei paint painting canvas
 

Föhnsturm am See.

Phantastisches Bühnenstück. Zweite Halbzeit.
 

Erster Gang

Auf einer Bank sitzt einer (E.). Ein anderer (A.) kommt hinzu, setzt sich. Es dauert einige Zeit.

A. Du sitzt oft hier. Immer schweigst du. 

Ein paar ruhige Atemzüge später.

E. Du schweigst auch.

A. Warum schweigst du?

E. Ich habe die Sprache verloren.

A. Wie? Die Sprache verloren? Du redest ja.

E. Eben, die Sprache. Die Rede kenn' ich auswendig, das Reden hab' ich auswendig. Es kommt von selber.

Die Windmaschine geht an  -  Föhnstoss  -  und weht eine leere Dose über den
Platz.

E. Eine Dose. Ohne Inhalt. Aber laut ist sie.

A. Du redest Blech.

E. Wie Blech? Die Dose ist doch aus Blech. Du redest ja auch nur, was du redest.

A. Ha!

E. Ich schweige. Du sagst, ich schweige. Ich sage: Dose. Du sagst: Blech. Du re-
dest nur, was dir vorfällt.

A. Ha! Ha!

E. Schweig lieber, wenn du nichts zu sagen hast.

A. Schweigen kann nur, wer was zu sagen hat.

E. Woher hast du diese Weisheit?

A. Vom Philosophen.

E. Oh, ich auch. Nur von einem anderen.

Windmaschine, starkes Gebläse: ein paar mächtige Böen. Allerhand Unrat treibt über und auf den Platz: Dosen aller Art, Blech und Kunststoff. Leerer Kübel, rollende Mülltonne. Mit leichter Ware gefüllte Abfallsäcke. Klirrende und zerbre-
chende Glasware, Gläser, Flaschen usw. Plastikstühle von einem nahen Teras-
sen-Café. Ein ganzer, verzweigter Ast trockenen Baumholzes fällt von oben usw.,
usw. ...

E. So vieles in so kurzer Zeit. Da verschlägt es einem ... die Rede.

A. Eine Ka - ta - stro - phe! Nur ein Chor könnte der gerecht werden.

Sogleich setzt ein im Hintergrund und auf den Seiten verteilter Sprechchor ein:

  "Blechdose",
    "Blech",
     "Holz",
      "Plastikstühle",
       "Stuhl",
        "Ast",
         "Gläser",
          usw., usw. (Was so auf dem Platz rumliegt oder noch weiterhin auf die
Szene geweht wird).
Dabei wird von den einzelnen Chorsprechern so rezitiert, dass jeder (jede) ein Wort mehrmals wiederholt und zwischen den Worten eine ihrer Länge ungefähr
entsprechende Pause gelten lässt (dh. Einsilbiges, zweisilbiges usw.: kürzere und
längere Pausen). Mit dem Abflauen der Böen verebbt dann der Sprechgesang.

A. Was ist eigentlich dein Beruf?

E. Ich berufe mich aufs Schweigen in der Abgeschiedenheit. Ich bin ein eigent-
licher Versager. Ich bin Versager von Beruf.

A. Wie? Du berufst dich aufs Schweigen?  -  Du redest ja andauernd, und das gar
noch in der Oeffentlichkeit.  - Abgeschiedenheit! Eine Anmassung! Wenn man so was überhaupt eine Anmassung nennen kann, eher ein Beispiel für dein masslo-
ses Gerede.

E. Eben das! - Ich schweige beim Reden. Und, aufs Schweigen berufe ich mich.
Ich rede ja nur, sage nichts. Ge - re - de! Wie du für einmal treffend ge - sagt
hast.
Er wendet sich ab und beginnt das herbeigewehte, verstreute Zeug aufzuheben
und zu häufen. Dieses Tun dauert bis der folgende Dialog beendet ist und sich
von dem zusammengelesenen Abfall ein ansehnlicher Haufen ergeben hat.
Währenddessen kommt von hinten oder von der Seite langsam ein grosses
Schlauchboot zum Vorschein. Auf einem kleinen Radgestell wird es hinten von einem Mann angeschoben.

A. zum Bootsmann (B.M.): Geht's?

B.M. Geht's?

A. Es geht.

B.M. Geht gut!?

A, Geht nicht schlecht!?

B.M. Es könnte nicht besser gehen.

A. Ich könnte noch etwas zulegen.

B.M. Ich müsste eigentlich abbauen.

A. Könnte ich doch von deinem Ueberfluss was abbekommen!

B.M. Ja, aber ich möchte dadurch nicht in deine Lage geraten.

A. Meine Lage ist eben so, dass ich zulegen könnte. Du bist am Ende, du kannst ja nur noch abbauen.

B.M. Ich bin am Ziel, nicht am Ende. Oder meinst du beides sei ein und dassel-
be?

A. Nein, nicht dasselbe. Ein Ziel hattest du. Jetzt bist du am Ende. Ich habe kein
Ziel. Ich bin schon da. Und ich könnte noch zulegen. Mein Dasein erfüllt sich im Unendlichen. Mein Ende wird sein, unendlich nicht mehr da zu sein.

E., der Abfallsammler und "Schweiger" setzt sich ins Boot.

B.M. zu A. Setz dich auch ins Boot. 
A. klettert ins Boot und setzt sich. B.M. klettert auch ins Boot, nimmt eine Packung Zigaretten hervor und bietet an. E. nimmt eine. B.M. gibt ihm Feuer und wendet sich zu A.

A. Nein danke! Ich rauche nur, wenn ich trinke.

B.M. nimmt eine billige Zigarre aus der Hemdtasche und zündet sie gemächlich an.

B.M. Ich erzähle jetzt meine Seemannsgeschichte. Für jeden Tag habe ich eine
Geschichte. Wollt ihr die heutige hören?

E. Ja!

A. Erzähl schon!

B.M. mehrmals innehaltend, den Rauch der Zigarre einziehend und Rauchzeichen
hauchend, sie betrachtend, erzählt er:
Also. In den auf den Meeresgrund gesunkenen Spinnengeweben verhakten sich die Anker und verhedderten sich die Taue der gewasserten Luftschiffe: Riesen-
bojen, an welche sich die Korallen legten, bevor jenen die Luft gänzlich entwich  und sie auf den Grund sanken und die Gewebe der Spinnennetze samt Ankern
und Tauen unter sich bargen. Während sie unten vermoderten und allmählich ganz von Sedimenten zugedeckt wurden, blühten droben im Sonnenlicht die Atolle, die, beschattet von Riesenwolken und vorüberziehenden, besser gebauten
und darum nur noch selten wassernden Luftschiffen, die Farbe wechselten und das Gemüt des Meeres in seinen vielfältigsten Schattierungen dem Auge sichtbar
machten. Das geschieht heute noch, und gäbe es wieder Luftschiffe, würden sich
viele Touristen  -  auch heute noch  -  daran freuen können.

E. raucht seine Zigarette zu Ende und schnippt sie im Bogen weg, dann:
Leider hast du nur ein Bodenboot auf Rädern.

B.M. Mein Boot, es rollt auf Rädern, es rollt auf den Wellen. Mein Bootssteg am See ist nicht weit. Fahren wir hin! Ihr werdet schon sehen.

B.M. kippt einen am hinteren Teil des Schlauchbootes befestigten Kasten vom
Bootsinneren nach aussen. Der Kasten ähnelt einem kleinen Aussenbordmotor.
B.M. zieht mehrmals an der Anlassschnur, bis dass der Motor angeht. Es klingt
anstelle von Motorengeräusch eine stark bassverstärkte Musik der neuesten
Mode, wie sie brummend und stampfend aus den Autos einer weitverbreiteten
Spezies von Fahrern hervordröhnt. Das Boot setzt sich in langsame Bewegung.
Da eilt aus dem Hintergrund noch eine junge Frau herzu.

Die junge Frau ruft: Nehmt mich mit! Nehmt mich mit!
Sie klettert ins fahrende Boot, oder wälzt sich hinein, und wird dabei von den
andern hereingezogen. Sie setzt sich auch hin.

B.M. singt jetzt zur Bootsantriebsmusik ein Seemannnslied:

Die singenden Blumen auf dem Meer der trommelnden Wasserkristalle,

die anderen (d.a) nachsingend   ... der trommelnden Wasserkristalle

B.M. tanzend im hüpfenden Glanz

d.a. ... im hüpfenden Glanz

B.M. der Augenlichter der Sonnenfische,

d.a. ... der Sonnenfische

B.M. tragen das Lied in die Segel

d.a. ... in die Segel

B.M. des rollenden Narrenschiffes. Weit, weit hinaus,

d.a. Weit, weit hinaus

B.M. in die fernste Nähe der Insel

d.a. ... der Insel

B.M. schwimmen die Glücklichen,

d.a. ... die Glücklichen

Alle gemeinsam: auf die flimmernde Bläue der seligen Gestade zu.

Das Schlauchboot verschwindet seitlich von der Szene. Die Bootsantriebsmusik
wird immer leiser hörbar, verebbt in der Ferne. Stille. Nach kurzer Weile der Stille setzen wieder Föhnböen ein, stark genug, um den Haufen der Abfälle in
der Platzmitte zu zerstreuen.

Und es setzt wiederum der Sprechgesang des Hintergrundchores ein, leise aber
deutlich hörbar die Namen des auf dem Platz verstreuten Zeugs skandierend
(wie vorher).

Dann, ein bläulich greller Blitz im Hintergrund, mit Donnerknall. Sofort ver-
stummt der Sprechgesang.  -  Stille.

Nach einer Weile der Stille hört man aus der Ferne ein zweistimmiges, im Takt
eines langsamen Ruderns wiederholtes: Ha, Ha. (französische Aussprache, mit
"h aspiré", zitiert nach der einzigen Redeweise von Bosse de Nage in Alfred Jarry's
"Docteur Faustroll").
Das "Ha, Ha" kommt allmählich näher. An der Seite des vorherigen Abgangs er-
scheinen auf der Szene zuerst zwei lange Riemen eines Ruderbootes, deren Schaufeln die Form von riesigen Händen haben. Sogleich eilen trippelnd auf Pla-
teau-Schuhen zwei weiblich aussehende Gestalten von gleicher Grösse hinter den ausholenden Ruderriemen her und wenden sofort und gleichzeitig ihren
ausladenden, aber wohlgeformten Hintern gegen die Riemenschaufeln, die, somit Griff findend, ein grosses, eisernes Bett auf kleinen Rädern (in Stil und Aussehen: beginnendes 20. Jahrhundert) hervorziehen, auf dem mit gestreckten
Beinen der Ruderer sitzt, gekleidet wie ein gutbürgerlicher Herr, um die 63 Jahre
alt (vielleicht mit Melone à la Debussy oder Satie, oder vielleicht mit flachem Strohhütchen wie auf einem bekannten Impressionisten-Gemälde).
Beim Abstossen der Riemen ertönt das gleichzeitige "Ha, Ha" der beiden weibli-
chen Gestalten. Das Ausholen der Ruder, das Nachtrippeln der Damen, das "Ha,
Ha" werden wiederholt bis das Bettboot weit zur anderen Seite des Platzes vor-
gerückt ist. Während dieses Vorgangs: immer wieder Föhnböen, die allerlei Un-
rat kleineren und grösseren Umfangs in Gegenrichtung auf den Platz wehen. Das
Bettboot rückt nur langsam und mühsam gegen den Wind vor.
Die weiblichen Gestalten, die freilich auch männliche Transvestiten sein könnten,
sind sehr leicht und betont "sexy" bekleidet. Sie tragen integrale Affenmasken,
aus denen oben eine voluminöse, gut gefestigte Haarpracht hervorquillt.
Das Bettboot kommt an der anderen Seite des Platzes zum Stehen, während die
Weibsgestalten trippelnd schon in den Seitengrund entschwinden. Der Ruderer
lässt die Riemen seitlich auf dem Boden aufliegen und blickt prüfend auf den Platz.

Ruderer: Wenn die Welt ist, was der Fall ist, dann ist die Unwelt, was der Unfall.
Sehen wir nach!

Er erfasst wieder die Riemen, holt in den Seitengrund aus: "Ha, Ha". Und holt wieder aus: "Ha, Ha". Und holt nochmals aus: "Ha, Ha". Das Bettboot verschwin-det langsam im Seitengrund: "Ha, Ha"  -  "Ha, Ha"  -  "Ha, Ha", allmählich ver- ebbend.

 

Zweiter Gang

Seitlich im Mittelgrund: ein längs gespaltener Baum, dessen eine Hälfte nach vorne auf dem Astwerk aufgestützt am Boden liegt; die andere Hälfte steht
noch, mit teils gebrochenen nach unten hängenden Aesten. Davor liegen, wie
dahingeworfen, in unnnatürlicher Lage, wie verrenkt, die drei Bootsfahrer. Die
junge Frau hängt mit dem Oberkörper (Rückenansicht) in den Aesten, Beine
(kniende Stellung) am Boden. Das umgekippte Schlauchboot: seitlich an den Aesten, in Schräglage.
Zu beiden Seiten dieses Bildes stehen die zwei Frauengestalten des Bettrude-
rers, mit der zu den Daliegenden gewandten Hand die langen Ruderriemen senk-
recht aufgereckt haltend. Etwas im Vordergrund steht (Rückenansicht) der Ru-
derer (R), die Unglücksszene betrachtend.

R. Schlaft ihr?! Oder seid ihr tot!? Oder stockbesoffen?
Schlaft ihr, dann wacht auf. Habt ihr denn kein Bett, kein Zuhause?
Tot? - Ihr verwest? - Das ist auch ein We-sen - in die Abwesenheit.
War euer Leben erinnerungstauglich? - Dann lasst es geschehen. Verwest!
Stinkt zum Himmel! - Das kann eurem Heil nicht schaden. Verduftet nur! Und
lasst euch alle Zeit. Euer Duft kann die Atmosphäre nicht verlassen. Und die
Erinnerung ist jenseits. - Oh! Heilige Mnemosyne! Nimm ihre reinen Bilder bei
dir auf. Gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht lasse sie leuchten in
die bewegten Schatten der Stille.
Verwest und stinkt euch aus!
Nach dem Föhn folgt meistens der Regen. Der wird eure Gasmoleküle auswa-
schen und in den Dünger der Erde schwemmen. Verwest! Und seid tauglich -
für die Fruchtbarkeit.
(Bedenkpause)
Nein!? - Ihr wärt besoffen?! Und somit euer Sturz erklärt? - Sturzbesoffen?

Sogleich anschliessend: die beiden Frauengestalten mit den Affenmasken, die
Schaufeln der aufrecht gehaltenen Riemen über den Darniederliegenden zusam-
menklatschend, gleichzeitig tönend:
Tot - tot! Tot - tot! Tot - tot!

R. Tot!? - Ein Wort!
Wie? - Wo habt ihr das aufgeschnappt? - Ha! Tot?!

Die beiden Frauengestalten wenden sich zu den Daliegenden und aufgeregt mit
zuckenden Armbewegungen auf sie zeigend:
Ha! Ha! Tot.
Tot! Ha! - Ha! Tot.

R. (erregt, erfreut) Ihr habt den Begriff. Der Begriff hat euer rudimentäres Hirn-
chen (erregt stotternd) er... er...griffen.  -  (Bedächtiger) Wie das Unglück der
einen, das Glück der anderen machen kann!  -  Der Anstoss ist gegeben. Eure
Weiblichkeit wird mir aus dem Ruder geraten. (Sie klatschen zweimal die Paddel
gegeneinander). Das weibliche Wesen wird euch immer mehr zu Kopfe steigen.
Und das ist gut so! Ich werde in meinem Etablissement (lacht laut) schon die
gediegene Verwendung für euch finden.

Im tiefsten Hintergrund leuchtet - zuerst fast unmerklich schimmernd, dann pro-
gressiv heller - eine Leuchtschrift auf:
GOOD NIGHT DEATH
                                                Luigi Mellinis Sterbepuff

Inzwischen zerren beide Frauengestalten an ihren Affenmasken, als wollten sie
sich ihrer entledigen.

R. (streng und bestimmt) Halt! Halt! Halt!

Die Frauengestalten (weiterhin an den Masken zerrend): Ha! Ha! Ha!

R. (lauter) Nicht "Ha, Ha"!  -  Halt!  -  Stopp! Stopp!
(schreiend) Hört auf!

Die Frauengestalten hören sofort auf, an den Masken zu zerren, auf sich zeigend: Stopp! Stopp! Tot? Stopp! Tot.

R. (beruhigt) Gut! Gut.  -  Nehmt die Masken nicht ab. S' ist viel zu früh. Eure Augen stecken zu transparent und wesenslos in den Augenhöhlen. Kein innerer
Schein, kein Hervorleuchten der Weiblichkeit. - Nichts! - Man könnte ja in eure
schier leere Hirnschale blicken. Mehr bringen eure Augen nicht her.
"Tot". - Das ist nicht genug. Lernt mal erst ein wenig leben, und euer Hirn wird wachsen, (macht eine weitende Geste mit beiden Händen) wachsen. (Lacht laut)
Weibchen mit Köpfchen, Frauen mit Kopf, Damen mit Verstand! - (Mit einer auf-
fordernden Geste an die Frauengestalten, zugleich sich wegwendend) Ab!
Und er geht  - ein Bein leicht nachziehend, ein wenig vornübergebeugt, mit hän-
genden Armen -  zur Ruder-Bettstatt, die ungefähr in der Mitte der Szene steht.
Die beiden Frauengestalten, die langen, senkrecht aufgerichteten Riemen vor sich hertragend, trippeln hinterher. Beim Bett angelangt legen sie die Riemen längs des Bettes nieder und helfen dem schon auf der Bettkante sitzenden Alten, indem sie seine Beine, ihn zugleich mit dem Gesicht in Fahrtrichtung (zum Büh-
nenhintergrund) drehend, ins Bett hochlegen (gequältes Aechzen seinerseits).
Dann heben die Weibsgestalten die Riemen auf, legen sie beidseitig in die Dollen
und gehen in Stellung, das Gesäss zum Ruderabstoss bereithaltend. Der Ruderer
bringt sich mit Hilfe seiner stützenden Arme ebenfalls in Position und ergreift die
Riemen.
Er beginnt zu rudern, die Frauengestalten wie ehedem bei jedem Abstoss ihr "Ha,
Ha" ("h aspiré") ausstossend, dann aber nachtrippelnd, sich in neue Position bringend und jeweils ein langgedehntes "Tooot" rufend. So bewegen sich alle drei zum Hintergrund und verschwinden, immer begleitet von "Ha-Ha-Tooot"-Ru-
fen, in einem unter der Leuchtschrift ("GOOD NIGHT DEATH") sich auftuenden
Toreingang (zweiteilige Schiebetür), der sich alsbald wieder schliesst.

Stille  -  Windstille  -  Totenstille.

Im tiefen Hintergrund wird blitzartig die Wand mit der Leuchtschrift grell be-
leuchtet. Auf der Höhe einer ersten Etage tut sich geräuschlos ein Rolladen über
einer doppelflügligen Fenstertür auf. Die Fensterflügel öffnen sich lautlos ein-
wärts; in dieser Oeffnung: kontrastierende Dunkelheit zur hellbeleuchteten Aussenwand.
In vier von Pausen unterbrochenen Schüben setzen wiederum Föhnböen ein, bei
jedem Schub stärker. Im selben Rhythmus nimmt die Beleuchtung der Wand ab
und die Erhellung des Inneren der Fensteröffnung zu. Es erscheint dort immer
deutlicher eine vorerst schattenhaft kaum wahrnehmbare Gestalt, die Gestalt des sitzenden Kaisers (des als Kaiser der Donaumonarchie bekleideten vormali-
gen Ruderers: Luigi Mellini, Inhaber des Sterbepuffs). Zu beiden Seiten des Kai-
sers, mit beiden Händen an der Leine gehalten: zwei gezähmte Schimpansen.
Mit der letzten, stärksten Böe werden vier leichte Gartenstühle (aus Kunststoff)
und zusätzlicher leichter Unrat in die Szene geweht.
Kurz darauf erscheinen seitlich aus der Windrichtung vier Leute, eine Frau und
drei Männer: die Frau einen Cellokasten, die Männer zwei Geigenkästen und einen Bratschenkasten tragend. Sie kommen ohne Eile, sich unterhaltend (für Unbeteiligte kaum zu verstehen), zuweilen kurz laut lachend. Sie bleiben vor den Verunglückten stehen  -  sie betrachtend.

Die Cello-Frau blickt auf zum Hintergrund. Erschreckt und erstaunt in einem ruft
sie: Der Kaiser!

Sofort geht die Erleuchtung des Innenraumes hinter der Fensteröffnung aus. Des
Kaisers Erscheinung von der Dunkelheit verschluckt. Der Rolladen wird herunter-
gelassen (diesmal geräuschvoll). Ueberrascht wenden die drei Männer den Blick
von den Verunglückten ab und schauen in die Blickrichtung der Cello-Frau zur
immer noch hell beleuchteten Wand.
Einer (der Männer): Marcella! (so heisst die Cellistin) Was? ...

Marcella (M.): (laut) Ich hab' ihn gesehen, (leiser) den Kaiser ...  den letzten von
Oesterreich - (noch leiser) Ungarn.  -  Dort hinter'm Rolladen. Jetzt ist es weg.            
Anderer (der Männer) zu M.: Dir hat wohl das Kaiser-Quartett ins Gemüt geschlagen, Wellen in deine sentimental getrübte Bewusstseinsbrühe geschla-
gen. Das Abschiedskonzert! Unsere bevorstehende Trennung. Schluss! Ende!
das berühmte "Thanatos-Quartett". Wir haben das doch alle vier gemeinsam ent-
schieden. "Einmal muss Schluss sein" hast du gesagt. Du warst die erste, die ...

M. Ja, Ja! ...
Ach! die Kaiserhymne.

M. (die Cello-Frau) fängt an, die vier herbeigewehten Stühle aufzustellen. Ein nach vorne geöffneter Halbkreis. Die drei Männer sehen ihrem Tun ratlos, schweigend zu. Sie geht dann zu der im Geäst des zerstörten Baumes einge-
hängten Frauenleiche und befreit einen Arm. Sie blickt zu den anderen Strei-
chern, fordert sie auf:
Fasst mit an! Helft mir, ein Bild herzustellen! Wir setzen die Toten auf die Stühle
da.

Einer kommt ihr zu Hilfe und befreit den zweiten Arm der Frauenleiche. Beide tragen dann die Tote zum Halbkreis; er: sie unter den Armen haltend geht rück-
wärts; die Cello-Frau ist zwischen den Beinen der Toten und trägt sie, die Unter-
arme unter deren Kniekehlen, vorwärtsgehend. Sie setzen die Tote auf den Stuhl, der im Streichquartett dem Cello zugedacht ist. Jetzt beteiligen sich auch
die zwei anderen Quartettisten. Sie helfen die drei noch daliegenden Leichen auf die verbleibenden leeren Stühle zu setzen. Arme, Hände, Beine und Köpfe wer-
den zurechtgebogen/-gedreht (beginnende Leichenstarre), so dass die Instru-
mente angebracht werden können. Dann holen die Vier ihre Instrumente aus den
Kästen oder Hüllen und bestücken damit die sitzenden Toten.
Marcella, die Cellio-Frau, stellt sich seitlich neben das tote Quartett, auf die vier
sitzenden Leichen blickend. Nach der ersten Verszeile der dann folgenden Dekla-
mation öffnet sich im Hintergrund der Toreingang zum "Good Night Death" (Luigi
Mellinis Sterbepuff). Gleichzeitig mit dem Toröffnen wird ein Plattenspieler aus dem 20. Jahrhundert (je älter desto besser) entweder von oben an einer Winde
heruntergelassen oder von unten aus dem Bühnenboden gehoben. Der vorerst
dunkle Toreingang wird dann mit jedem neuen Vers heller. Ebenso folgt das Her-
vortreten oder Herabsinken des Plattenspielers dem Fortgang der Deklamation,
mit deren Ende auch die progressive Erhellung (Toreingang) und das Erscheinen
des Plattenspielers (auf den Boden vor dem toten Quartett) ihren Abschluss finden.
Mit der stärker werdenden Erleuchtung des Toreingangs wird dort immer deut-
licher Luigi Mellini sichtbar  -  immer noch im Kaiserkostüm. Er sitzt aber jetzt
in einem Rollstuhl, und statt der beiden Schimpansen stehen ihm die vormaligen
Rudergehilfinnen zur Seite, nun ohne Affenmasken und in typischer Kranken-
schwesternmontur.

Marcella hebt die ausgebreiteten Arme und deklamiert (seitlich dem toten Quar-
tett zugewandt):
Die Gebärde aus dem Beilauf zu "dem Rhythmus,
dem unendlichen, der uns trägt die Menschen",
sie ist hier erstorben in erstarrter Stille.
Da, ein Bild. Es zeigt uns den Verzicht des Spiels,
das uns, surfend auf Musik, den ew'gen Gang der
Wellen, nach Massen ersterbend und nach Massen sich hebend,
kunstvoll, den Hörern eine Lust, meistern liess.
Der Verzicht ist Lust der Lust, so glauben wir.
Tod ist Lust des Lebens, verhehlte Lebenslust:
"Ew'ges Feuer, verlöschend nach Massen, nach Massen entbrennend".

M. wendet sich und blickt zum hell erleuchteten Toreingang. Die drei anderen Quartettisten (I, II, III) stellen sich in einem Dreierglied hinter sie und begleiten ihre abschliessende Deklamation mit einem homophonen, etwas leiseren Dazu-Sprechen. Marcellas Rezitation wird durch die homophone Uebereinstimmung der
Zeilen bestimmt, so dass ihre lauter hervortretende Hauptstimme zu einem etwas stockenden Deklamieren wird.
M.  In     Mellini's     Puff dahinten         hilft man      sterben.
I   Finden      Nissenduft      im engen Schilf    andere     Hände,

M. Lebens -  lust      im       Abschied     zum     Orgasmus    steigern,
I   Hebe  Schlussbestimmung,   schiebend un-besorgt  Mustersteige.
II    Wenn's        fest   rumgrabscht,  entsumpfe   Gas       erst  gerne,

M. das    ver-spricht   uns           Euthanasia,    die        Todes-muse.
I   Passe      schlichte Umstände neu   an die Ecktisch  -  Mode
II Phase  der   S i cherung  ändert    dann via     Mischmethode
III     sende      i c h  Gunst     erneut      dia-lektisch       ohne Musse:

M. Soll       ein    Lustschrei    unsern    Lebensknäuel            lö-sen,
II Stolper-stein, Fluss -  Reinigung,    Ablesen   neuer     Ver-stösse.
III So der Weingenuss      einigt spendable       Neuenburger-Grössen.

M. unser      entwendetes Selbst     ins      selbe     Eine  fliessen.
III Unvergessen   änderte Herbstbeginn blaugelben kleinen Rie-sen.

M. lässt die ausgebreiteten Arme sinken und wendet sich zu den Dreien in ihrem
Rücken:
Lasst ein letztes Mal die Kaiserhymne hören!

Marcella geht zum Plattenspieler (kein CD-Gerät). Aufgelegt schon ist die Platte, eine Aufnahme von Josef Haydn's "Kaiserquartett" (je älter, desto besser, viel-
leicht noch aus der Pionierzeit der ersten Aufnahmen, vor dem zweiten WK). M.
legt den Tonabnehmerarm auf, es erklingt das "Poco adagio - cantabile", die Kai-
serhymne. Nach den ersten Klängen erhebt sich, von beiden Frauengestalten in
Schwesternmontur unter den Achseln gestützt, der Kaiser, dh. Puff-Inhaber Mellini in der Kaiseruniform. Er bleibt stehen, blickt mit würdevoll erhobenem Haupt in die Ferne, die Hymne hörend. Die Quartettisten formieren sich, ein-ander die Arme über die Schultern legend, zur Gruppe, und tanzen, dem Adagio entsprechend, mit gemächlichen Schritten. Nach einer Weile trennen sie sich zu Paaren, zur Dreiergruppe plus einem(r) Einzelnen, um sich dann wieder zu ver-einigen - und so weiter und so fort (jedoch nie alle vier alleine).
Mit der fünften und letzten Wiederholung des Themas der Hymne, das dann von der führenden ersten Violine zum Ausklang geleitet wird, beginnt aus den Schlitzen der Instrumente im toten Quartett Rauch zu entweichen; zuerst nur wenig aus dem Cello, dann aus der Bratsche und den Violinen, allmählich mehr und mehr, von den Tänzern und vom Kaiser nicht bemerkt. Dann steigen Rauch- schwaden auch hinter dem Rücken der sitzenden Leichen und unter den Sitz-flächen der Stühle.
Von der Seite stürzen zwei Bühnenwerker mit Feuerlöschern auf die Szene vor das Leichenquartett und bedecken es mit weissem Löschschaum. Jetzt halten die Tanzenden inne und weichen erschreckt ein paar Schritte zur anderen Seite der Szene. Der Kaiser im Toreingang des Puffs, aus seinem andächtig, würdevollen Hören gerissen, lässt sich nicht minder erschreckt in seinen Rollstuhl fallen und wird von beiden Pflegerinnen zurechtgerückt: die Uniform geordnet, der kaiserliche Hut aufgesetzt.
Die Bühnengehilfen sind mit ihren Feuerlöschern schon abgezogen. Da beginnen die schaumbedeckten, toten Quartettisten sich auf den Stühlen zu regen; ihre steifen Glieder bemühend stehen sie unbeholfen auf, die Instrumente und Bögen entfallen ihnen und krachen auf den Boden. Schwerfällig, wackelnden Ganges, mit steif herunterhängenden Armen und verkrampfter Kopfhaltung, gehen sie (gleichsam weisse Zombies eines Ami-Filmes aus den siebziger Jahren des letz-ten Jahrhunderts), an den noch lebenden ehemaligen Streichern des gewesenen berühmten "Thanatos-Quartetts" vorbei, auf den Kaiser im Toreingang zu. Auf halbem Weg brechen sie aber  - endgültig tot -  zusammen. Entsetzt von diesem Anblick flüchtet das ehemalige "Thanatos-Quartett" am Kaiser vorbei in den Tor-eingang und verschwindet im Hintergrund. Auch der Kaiser in seinem Rollstuhl wird von beiden Begleiterinnen eilig in den Hintergrund geführt.  -  Während dieses ganzen Geschehens klang das Kaiserquartett  - und klingt auch nachher noch -  weiter, sofern der Plattenspieler nicht vorher, beim überstürzten Einsatz der Feuerlöscher umgekippt wurde?
Eine nicht allzulange Weile danach erscheinen aus dem Hintergrund im Torein-gang vier Bühnendiener, jeder mit einer starken, längeren Leine (Seil). Sie ver-schlaufen die Leine um die zusammengelegten Fussgelenke der weissen Leichen, ziehen dann die Leine über die Schulter und schleifen die Toten, während der Bühnenvorhang schliesst, durch das Tor in den Hintergrund.